• Saleh
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    19 hours ago

    Ich kann dazu jedem das kürzlich stattgefundene Jung & Naiv Interview mit dem Leiter der KZ Gedenkstelle Buchenwald empfehlen. Da wird neben der Schlussstrichdebatte und den politischen Veränderungen und ihren Gefahren für die Gedenkstätten auch der Begriff der “Erinnerungskultur” und die politische Instrumentalisierung problematisiert.

    Wenn ich das halbwegs richtig wiedergebe, hat Jens-Christian Wagner erklärt, dass “Erinnern” nur ein Akt ist, der sich auf selbst Erlebtes beziehen kann, wodurch die Forderung “erinnert euch!” inzwischen schon an der Demographie scheitert. Die Forderung hat dann jedoch auch das Problem, dass sie eine persönliche “Erbschuld” impliziert, die dann natürlich zurückgewiesen wird. Das steht im Kontrast zum Gedenken an die Opfer einerseits, was unabhängig von Fragen von persönlicher Schuld geboten ist. Und es steht im Kontrast zur historischen Aufarbeitung, die eine gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Opfern ist, und andererseits eine Verantwortung um derartige Verbrechen niemals wieder geschehen zu lassen.

    Aus meiner Sicht ist die jetzige Erinnerungskultur, wie sie politisch und medial gelebt wird, zum Scheitern verurteilt, weil sie zunehmend performativ ist und gerade der letztgenannte Aspekt, ein “Niemals wieder” zu garantieren dabei von den Performern ignoriert wird, z.B. indem sie gegen Geflüchtete, in Armut Gedrängte und vermeintliche “Ausländer” hetzen, autoritäre Systeme aufbauen, Menschenrechte schwächen und Ungleichheit in der Gesellschaft befördern und instrumentalisieren.

    • splendoruranium@infosec.pub
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      6 hours ago

      Wenn ich das halbwegs richtig wiedergebe, hat Jens-Christian Wagner erklärt, dass “Erinnern” nur ein Akt ist, der sich auf selbst Erlebtes beziehen kann, wodurch die Forderung “erinnert euch!” inzwischen schon an der Demographie scheitert. Die Forderung hat dann jedoch auch das Problem, dass sie eine persönliche “Erbschuld” impliziert, die dann natürlich zurückgewiesen wird. Das steht im Kontrast zum Gedenken an die Opfer einerseits, was unabhängig von Fragen von persönlicher Schuld geboten ist. Und es steht im Kontrast zur historischen Aufarbeitung, die eine gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Opfern ist, und andererseits eine Verantwortung um derartige Verbrechen niemals wieder geschehen zu lassen.

      Unter der Voraussetzung, dass du das korrekt widergibst, klingt das für mich irgendwie nach… Gefasel über Semantik. Ist jetzt das Problem wirklich das Wort “Erinnerungskultur” und die mit den einzelnen Wortbestandteilen verbunden Konnotationen? Dann nennt man es halt anders. Wissensgewinn, Lernen aus Fehlern, wie auch immer.
      Die Differenzialrechnung muss man auch nicht alle paar Generationen neu entwickeln oder “selbst erleben”. Genau so wenig muss man sich daran “erinnern”, dass eine starke internationale Gemeinschaft und Ehrfurcht vor dem Leben eher gut und autokratische Systeme und Ungleichheit in Gesellschaften eher schlecht sind.

      Dass all diese Dinge vielleicht in den letzten 50 Jahren hierzulande und weltweit nicht in ausreichendem Maße als ähnlich objektive und nützliche Wahrheiten verbreitet wurden wie Differenzialrechnung, hat komplexe und frustrierende Gründe, aber mit “Erinnerungskultur” denke ich wenig zu tun.

      • Saleh
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        5 hours ago

        Ich denke die “Semantik” ist gerade in dem Fall relevant. Zum Beispiel heißt es im Artikel

        Bei der Befragung gaben 44,8 Prozent an, sich darüber zu ärgern, “dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden”. 28,2 Prozent stimmten dem Satz nicht zu. Thesen wie “ich verstehe nicht, warum ich mich heute noch mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen soll” und “ich finde es in Ordnung, wenn zukünftige Generationen sich nicht mehr mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen” wurde mehrheitlich widersprochen.

        Also besteht unter den Befragten mit deutlicher Mehrheit (siehe Studie) das Verständnis, dass eine Auseinandersetzung wichtig ist, während die Frage nach Schuld eher abgelehnt wird. Das zeigt sich auch in der Studie selbst, wo auf Seite 54/55 diese Themen ausgewertet werden. Allerdings zeigt sich eine deutliche Verschiebung zur der Frage ob man sich zukünfitge Generationen noch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen sollen.

        Die “Semantik” und die Frage der Ausrichtung sind aus meiner Sicht damit brandaktuell. Schließlich ist die “Semantik” auch Ausdruck einer Symbolik. Und die Symbolik dieser Erinnerungskultur kommt aus meiner Sicht in die Jahre, weil sie den Anschluss an die heutige Zeit und die Problematik des Rechtsruckes, gerade in der “Mitte der Gesellschaft” nicht ausreichend einbindet. Die Erinnerungskultur der DDR war zentraler Bestandteil ihres Gründungsmythos und entsprechend gefärbt. Die Erinnerungskultur der BRD hat v.a. nach der Wende Form und Umfang angenommen. Diese Erinnerungskultur wurde genutzt, um die Idee eines friedlichen und ungefährlichen Deutschlands nach außen zu tragen, um die Opposition zur Wiedervereinigung in Europa zu schwächen. Damit ist diese Erinnerungskultur als Symbol auch mit den Regierungen Kohl, Schröder und Merkel eng verbunden. Mit dem grassierendem Neoliberalismus und dem eingeschläfertem “weiter so”, während die Risse in der Gesellschaft immer breiter werden.

        Ich zitiere mal aus diesem Artikel der bpb aus dem Jahr 2008

        Die wichtigsten neuen Konstellationen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lassen sich in zehn Punkten skizzieren:

        3 Welche Themen auf die erinnerungspolitische Agenda gelangen, hängt stark mit den Massenmedien zusammen. Man kann formulieren: Erinnert wird, was massenmedial präsentabel ist.

        6 Das vereinigte Deutschland stieg spätestens im Jahr 2005 zu einer Art retrospektiven Siegermacht des Zweiten Weltkrieges auf. Bei den Feiern anlässlich des 60. Jahrestages des “D-Days” und damit des Sieges über Hitlers “Drittes Reich” mussten sich der deutsche Kanzler Gerhard Schröder und seine Delegation nicht mehr verstecken. Die geglückte deutsche Demokratie wurde durch die Regierungspräsenz im Kreis der ehemaligen Alliierten geadelt.

        7 In Deutschland selbst ist – nicht zuletzt als Folge des Generationenwechsels – der vormals bezweifelte Patriotismus oder gar der “negative Patriotismus” überwunden, stattdessen macht sich Identitätssicherheit und ein “fröhlicher Patriotismus” der Deutschen breit, der andere Vater- und Mutterländer einschließt. Insofern war das “Sommermärchen” der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 kein Strohfeuer, sondern ein Symptom des Wandels.

        9 Auch auf dem Feld der Vergangenheitsbewältigung, ihren Formen, Inhalten und Erfordernissen ist Deutschland zu einem Exportweltmeister geworden. An dieser “DIN-Norm” reiben sich jedoch einige Länder, die eigene Wege gehen möchten und nicht einsehen wollen, warum die Deutschen immer die “Besten” sein müssen: Erst verüben sie die größten Verbrechen – was mit Blick auf den Holocaust und den NS-Vernichtungskrieg zutrifft; dann verarbeiten sie diese mit der besten Vergangenheitsbewältigung, - was man im Rückblick von 60 Jahren trotz Rückschlägen und Skandalen durchaus behaupten kann.

        Das liest sich jetzt 17 Jahre später z.T. absurd, fasst aber denke ich ganz gut zusammen, mit welcher Symbolik der Begriff in Deutschland in Verbindung steht.

    • Kissaki
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      Deutsch
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      7 hours ago

      Das Erinnern kann ich verstehen wie das Gedenken. Das muss nicht nur auf selbst elected beziehen.

      Wenn ich sage “ich erinnere mich” ist das natürlich etwas anderes. Aber es geht doch um “ich erinnere an”.

      Auch an Wissen und Historie kann man sich erinnern und andere erinnern.

      • Saleh
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        7 hours ago

        Ich habe die Stelle im Interview rausgesucht, wo über die Begriffe gesprochen wird. Etwa ab Minute 16 https://www.youtube.com/watch?v=6_5AxaCtGfI&t=960s

        Meine Gegenüberstellung von Erinnern und Gedenken war auch nicht die Begrifflichkeit von Jens-Christian Wagner. Er hat das “Erinnern” mit “kritischer Auseinandersetzung” und “historischer Reflexion” gegenübergestellt. Er geht auch darauf ein, dass “kollektive Erinnerung” immer mit einer Konstruktion einhergeht. Auf die Problematik geht er später noch mal ein, wenn es um die Erinnerung von Zeitzeugen geht. Die frühen Aufzeichnungen sind aus seiner Sicht sehr wertvoll, weil spätere Erinnerungen Jahrzehnte danach “kanonisiert” sind und sich das eigene Erleben mit den entstandenen Narrativen vermischt hat.

      • Saleh
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        7 hours ago

        Begrifflich könnte man vlt. von “Erinnerungskultur” zu einer “Verantwortungskultur”.

        Inhaltlich braucht es aus meiner Sicht eine deutlich schärfere Benennung nicht nur von Faschos wie der AfD, sondern auch von Rechtsextremen, Rechtspopulisten und Steigbügelhaltern.

        Und es darf dann aus meiner Sicht auch keine Toleranz gegenüber Politikern geben, die das wiederholt und wissentlich ignorieren. Wer z.B. fordert Menschenrechte wie das Recht auf Asyl einzuschränken oder abzuschaffen hat auf Gedenkveranstaltungen und an Gedenkstätten aus meiner Sicht keinen Platz. Ein “Nie wieder” kann nur gesichert werden, wenn Menschenrechte niemals in Frage gestellt werden.

        Wie man das im aktuellem politischen Klima verankert, ohne damit dann weitere Angriffe auf die Finanzierung und Arbeit von Gedenkstätten und zivilgesellschaftlichen Initiativen für Menschenrechte und gegen Rechtsextermismus zu provozieren, weiß ich leider auch nicht. Andererseits sehen wir diese Angriffe schon jetzt von AfD, CDU und FDP auf kommunaler Ebene.

    • daw
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      6 hours ago

      Was eine stumpfe Perspektive

    • nyras234@discuss.tchncs.de
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      7 hours ago

      Kriegssichttüchtigkeit gegen Antifaschismus auszuspielen ist doch Unsinn. Die Kriegssichttüchtigkeit aller Staaten, die im 2. WK gegen Deutschland gekämpft haben, war im Effekt antifaschistisch.