#Pingpong bis zum Tod
Mit ihrer „feministischen Außenpolitik“ wollte Annalena Baerbock vieles besser machen. Doch Versuche von Ärzten, schwer verletzten Kindern aus Gaza zu helfen, scheitern weiter an Verwaltungsakten.
Wie philanthropisch und gerecht sie doch klingen, die Leitlinien der feministischen Außenpolitik. Auf der Webseite des Auswärtigen Amts schickt Außenministerin Annalena Baerbock ihnen diese Zeilen voran: „Wir verfolgen eine feministische Außenpolitik, weil es bitter nötig ist. Weil Männer und Frauen weltweit noch immer nicht gleichgestellt sind. Weil Frauen, aber auch Kinder oder Ältere in Konflikten besonders verletzlich sind.“ Wer Frauen schützt und fördert, so die Grundidee, fördert auch Frieden und Gerechtigkeit. Nicht weniger als eine Neuausrichtung der bisherigen Diplomatie hatte sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vorgenommen. Und ja: Grundsätzlich lässt sich sagen, dass alles in den Leitlinien der feministischen Außenpolitik fabelhaft klingt. Die Ungerechtigkeiten dieser Welt werden in ihnen aufgelistet und sollen angegangen werden.
Insofern hätte man in Berlin begeistert sein müssen, als Kerstin van Ark am 10. April „Geschafft!“ rief und durch ihre Wohnung tanzte. Die Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie hatte es innerhalb weniger Wochen hinbekommen, Klinikbetten für schwer verletzte Kinder aus Gaza zu organisieren. Ihr Hilferuf hatte sich schnell verbreitet: 40 Chefärztinnen und Chirurgen in ganz Deutschland erklärten sich bereit, Kinder aus Gaza aufzunehmen und pro bono zu behandeln. Aus den ursprünglich 15 Kindern wurden bald 32, van Ark gelang es, für alle Behandlungsplätze zu finden.
Das jüngste Kind auf der ersten Liste von Kerstin van Ark – datiert auf den 17. März – ist zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt. Das kleine Mädchen heißt Ronza. Sie hat eine Oberschenkelverletzung mit komplizierter Fraktur durch eine Explosion. Am 10. April dann sind alle Kinder auf van Arks Liste grün markiert. Das bedeutet: Für alle ist ein Platz in einem deutschen Krankenhaus gefunden – und schriftliche Versicherungen, die eine kostenfreie Behandlung garantieren, liegen vor. Auch der Transport der Kinder ist finanziert. Die Flugambulanz für die kleinen Patientinnen und Patienten und deren Begleitpersonen will eine Hilfsorganisation übernehmen. Kerstin van Ark geht davon aus, dass ihre Arbeit damit getan ist. Bliebe noch ein wenig Papierkram: Daniela Neuendorf von der Kölner Refugees Foundation und der Chirurg Jan Wynands sollen sich um die Visa kümmern. Der Chirurg kennt die Situation vor Ort, im Februar und März hat er drei Wochen lang in Rafah operiert, im European Gaza Hospital, täglich bis zu zwölf Eingriffe.
Werden die Wunden nicht behandelt, drohen drastische Folgen
Es sind keine Schürfwunden, die die Kinder auf der Liste haben. Es sind Schwerverletzte, die in Gaza nicht ausreichend behandelt, nicht umfassend versorgt werden können. Die Kinder wurden von „Gaza Kinder Relief“ ausgewählt, einer Partnerorganisation. Krankenakten und Bilder der Verletzungen wurden nach Deutschland geschickt und von Fachärzten begutachtet. Wynands weiß genau, welche Behandlungen in Gaza möglich sind – und welche nicht.
Ein Teil der Kinder hat so gravierende Verletzungen, dass es primär um lebensrettende Maßnahmen geht, etwa bei Verletzungen des Zwerchfells oder der Eingeweide. Häufig sind sie durch Explosionen entstanden, die sowohl zu Verbrennungswunden, als auch zu ausgeprägten Schäden an Weichteilgeweben und inneren Organen führen können. Oder zu Verletzungen der Gliedmaßen, bei denen bei richtiger Behandlung Arme und Beine noch gerettet werden könnten. Zwei Fälle lehnen die Ärzte aus Deutschland ab, sie können auch in Gaza behandelt werden. Die restlichen Kinder hätten dort keine Chance, gerettet zu werden.
„In der Regel handelt es sich um dringende, aber nicht um Notfalloperationen“, sagt Wynands. „Doch wenn die Wochen vergehen, kommt es häufig zu einer Infektion, die oft zwangsläufig Amputationen erforderlich macht.“ Ein weiteres Problem in Gaza: Die Menschen sind mangelernährt, was Heilungsprozesse erschwert. Es sind massive Wunden, die bei Nichtbehandlung zu Behinderung und Siechtum, im schlimmsten Fall zum Tode führen, so Wynands.
Die Verhältnisse in dem Krankenhaus, in dem er operierte, hätten das Vorstellbare teils überschritten. Menschen, die hier Zuflucht suchten, bauten auf dem gesamten Gelände Zelte auf, spannten Planen für ein wenig Schatten. „Tausende“, berichtet der Chirurg. „Sie waren überall – auf den Gängen des Krankenhauses, in den Ecken des Treppenhauses. Sie lagerten und campierten, mit einem Stück Pappe oder Plane bedeckt.“ Alles sei dreckig gewesen, laut. „Die Notaufnahme ist ein Sinnbild für die Situation vor Ort: Hier kommt der Krieg frisch rein, auch Menschen, die es gar nicht mehr in den OP schaffen, sie verbluten oft bereits zuvor.“ Menschen, die ihre Angehörigen suchen, schreiende Frauen, weinende Kinder. Oft 20 oder 30 Schwerverletzte auf einmal, dann beginnt die Triage.
Kann man es den Kindern zumuten, ohne Begleitung ins Ausland geschickt zu werden?
Nie jedoch hätten Wynands, van Ark und Neuendorf erwartet, was sie in den nächsten Monaten bei dem Versuch der Zusammenarbeit mit deutschen Behörden erleben würden. Zunächst suchen sie das Gespräch mit der deutschen Botschaft in Kairo, da die Kinder über Ägypten ausgeflogen werden sollen. Mehrfach, so berichten es mit dem Vorgang Vertraute, sei das Thema zwischen Kabinettsmitgliedern diskutiert worden – ohne Ergebnis. Wochen vergehen. Schließlich folgen Online-Gespräche mit dem Auswärtigen Amt zur Beantragung der Visa für die verletzten Kinder. Dabei sei geraten worden, es zunächst ohne Begleitpersonen zu versuchen.
Als sie in Erwägung ziehen, die Kinder tatsächlich ohne Begleitpersonen auszufliegen, es zumindest mit einem oder zweien zu probieren, rät Sally Becker von „Save a Child“ vehement davon ab, ihrer Partnerhilfsorganisation in Großbritannien. Diese Kinder seien akut traumatisiert, es müssten lebensverändernde medizinische Entscheidungen getroffen werden, für die sie die Verantwortung nicht übernehmen könnten. Auch Mechthild Sinnig, stellvertretende Chefärztin der Kinderchirurgie in Hannover, rät ab: „Wir halten es für unabdingbar, dass die schwer verletzten Kinder mit einer Begleitperson ausgeflogen werden, unabhängig vom Alter. Wir haben es in der Vergangenheit immer wieder erlebt, dass über andere Hilfsorganisationen Kinder ohne einen Angehörigen in ein deutsches Krankenhaus verbracht wurden und dort maximal sekundär traumatisiert wurden.“ Durch Heimweh, durch Kulturschocks, durch Einsamkeit.
Kerstin van Ark schreibt nun neue Listen. Auf ihnen sind inzwischen einige Namen von Kindern rot markiert. Das bedeutet im besten Fall, dass sie in ein anderes Land ausgeflogen wurden. Im schlechtesten Fall heißt es, dass sie tot sind.
Die Mitarbeiter des Auswärtigen Amts wollen sich weiter bemühen, heißt es. Kinder sind der Außenministerin ein großes Anliegen – insbesondere die in Gaza. Zumindest erwähnt Annalena Baerbock sie häufig in ihren Reden. „Gaza ist der gefährlichste Ort auf der Welt für Kinder“, zitiert Baerbock im November die Worte der Unicef-Chefin. „Diese Eltern, diese Kinder, die Familien können sich nicht einfach in Luft auflösen“, sagt sie im Februar, Israels Recht auf Selbstverteidigung beinhalte keines zur Vertreibung. Und am 24. März warnt Baerbock: „Und in der Hölle von Gaza sind mehr als eine Million Kinder, Frauen und Männer von Hunger bedroht. Das darf keinen Tag so weitergehen.“ Tut es aber, und so reagiert die Außenministerin erst neulich, beim „Talk im Tipi“, einer Veranstaltung im Rahmen der Feierlichkeiten zu „75 Jahre Grundgesetz“ in Berlin, emotional auf Kritiker, die ihre Rede immer wieder unterbrechen: „Wenn sie offensichtlich nicht reden wollen, das tut mir leid, so kann man auch keine Kinder in Gaza retten.“
Bereits neun Tage zuvor, am 16. Mai, musste das Bein von Kareem amputiert werden. Kareem ist 14 Jahre alt, auch er stand auf der Liste der Chirurgen. Wäre er in Deutschland behandelt worden, hätte sein Bein vermutlich gerettet werden können.
Endlich gibt es ein Gespräch mit dem Innenministerium. Der Durchbruch?
Die Presse möchte Kerstin van Ark zu diesem Zeitpunkt noch nicht kontaktieren, „um den Verhandlungsprozess nicht zu gefährden“. Doch die Helfer sind bereits verärgert: „Wie kann es sein, dass derweil über 100 Kinder nach Italien, mehrere verletzte Kinder in die USA, nach Abu Dhabi, Algerien, Oman und Kuwait verbracht wurden und es nicht gelingt, die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, wo doch alles organisiert ist?“, fragt Frank Peter, Gründer der an der Aktion beteiligten Organisation Placet, mit der plastische Chirurgen Terror- und Gewaltopfern helfen. „Wir waren immer wieder an einem Punkt, an dem wir weder vor- noch zurückkamen“, sagt van Ark und holt tief Luft. „Mehrmals waren wir kurz davor aufzugeben. Aber menschlich konnten wir das nicht übers Herz bringen. Gerade wenn man weiß, dass hier 40 Betten bereitstehen, die man mit schwer verletzten Kindern aus Gaza füllen kann und möchte.“
Dann gibt es endlich ein gemeinsames Gespräch mit dem Ministerium des Innern. Wenn dieses Gespräch geschafft ist, hofft van Ark, gelingt ein Durchbruch. Am 10. Juni findet das Treffen statt. Das Ergebnis: niederschmetternd.
Die Position des Ministeriums bleibt hart: Man müsse Sicherheitsrisiken bei Begleitpersonen beachten, hinzu käme eine unklare Rückkehrperspektive – man fürchtet also, Terroristen oder Asylbewerber ins Land zu holen. Auf Anfrage der SZ schreiben Innen- und Außenministerium, eine Einreise von Kindern unter zwölf Jahren zur Behandlung sei „grundsätzlich möglich“. Im Weiteren seien die Häuser in Abstimmung, „unter welchen Voraussetzungen die Einreise von Begleitpersonen realisiert werden kann, die für die Heilungsprozesse der schwer verletzten Kinder wichtig“ sind. Die Abstimmung dauert offensichtlich immer noch an.
Die Chirurgen sind fassungslos, auch deshalb wenden sie sich jetzt an die Öffentlichkeit. Kerstin van Ark meint, sie sei eher maßlos enttäuscht als wütend. „Ich dachte, wir leben in einem humanitären Land. Deshalb haben wir auch nicht aufgegeben.“ Sie könne es nicht nachvollziehen, dass man in schwer verletzten Kindern ein Sicherheitsrisiko sehen kann. „Es ist ein bisschen so, als würden die Pingpong mit einem spielen. Manchmal hat man den Eindruck, dass sie einen so lange von Behörde zu Behörde schicken, bis sich das Problem von allein gelöst hat – und alle verstorben sind.“
Van Arks Liste ist heute fast vollständig rot. Die Kinder sind entweder in andere Länder gebracht worden, nicht auffindbar oder eben tot. Weswegen sich die verhinderten Helfer heftige Vorwürfe machen. „Hätten wir geahnt, dass es nichts wird, hätten wir viel eher gesagt: Verteilt die Kinder anders“, sagt van Ark. „Das ist eine Last, die wir nun tragen müssen. Dadurch, dass wir so lange warten mussten, sind jetzt Kinder gestorben, die auf unsere Hilfe warteten.“
Ist das Konzept der feministischen Außenpolitik also vor allem viel Schein und wenig Sein? Worthülsen, die in ihrer praktischen Umsetzung an ihre Grenzen stoßen? Als Annalena Baerbock im November in Bezug auf die Kinder von Gaza sagt, es mache ihr Sorgen, dass oft nicht die Menschen im Vordergrund stünden, sondern die Bekenntnisse – da meinte sie jedenfalls nicht das eigene Haus. Sondern die reflexhafte Parteinahme vieler für entweder die eine oder andere Seite.
Der Begriff „feministische Außenpolitik“ führt oft zu Missverständnissen
Offenbar hat Ende Juni nun das israelische Militär in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen 68 Kinder mitsamt Begleitpersonen aus Gaza gebracht. Selbst Israel hat die Notwendigkeit erkannt, dass diese Kinder dringend eine medizinische Behandlung benötigen – vielleicht kommen nun doch noch welche von ihnen nach Deutschland. Eines der Kinder steht auch auf der Liste von Kerstin van Ark.
Und so wird sie tun, was auch Baerbock vor wenigen Tagen zumindest ankündigte: weitermachen. Am 26. Juni sagt die Außenministerin auf der Herzliya-Sicherheitskonferenz in Israel: „Die Hände resigniert in den Schoß zu legen, ist keine Option, denn dadurch wird weder der Schmerz der Familien der Geiseln beendet noch das Leiden der unschuldigen Kinder in Gaza.“
Gemessen an den Resultaten ist die bisherige Bilanz bei der Umsetzung der feministischen Leitlinien dürftig. „Aus den vorgenannten Gründen konnten bislang keine entsprechenden Visa verteilt werden“, schreibt das Außenministerium und verweist neben der Frage nach den Begleitpersonen auch darauf, dass die Grenze zwischen Gaza und Ägypten ohnehin geschlossen sei.
Die Diskrepanz zwischen den Zielen der Chefdiplomatin und ihren Ergebnissen wird von Krise zu Krise sichtbarer. Vielleicht weil sowohl das Konzept als auch Baerbock im Ernstfall an ihre Grenzen stoßen. Vielleicht weil eine neue feministische Außenpolitik in einem mehrheitlich von Männern besetzten Ministerium nicht so einfach durchzusetzen ist. Und ziemlich sicher hakt es wie schon in anderen Fällen zuvor bei der Zusammenarbeit zwischen dem Außenamt, bei dem die Nöte dieser Welt anbranden, und dem Innenministerium, das vor allem an Recht und Ordnung interessiert ist.
Der Begriff „feministische Außenpolitik“ führt oft zu Missverständnissen – nicht etwa, weil er so schwer zu verstehen ist. Sondern vor allem, weil er Hoffnungen und Erwartungen schürt. Die Mütter der schwer verletzten Kinder aus Gaza werden sich einreihen in die Gruppe enttäuschter Frauen aus Afghanistan und Iran, die auf Unterstützung oder Evakuierung hofften und außer leeren Worten wenig von der feministischen Außenpolitik Deutschlands gespürt haben. Ihre Leitlinien aber, die klingen nach wie vor wirklich fabelhaft.
Schreibtischtäter