Ein Sommer, etwa 2009. Nach zwei kurzfristigen Beschäftigungen beziehe ich wieder Hartz 4 und bin abhängig vom Jobcenter.
“Ach Mensch, Sie sind ja noch jung, machen Sie doch einen Computerkurs!”, sagt die überdurchschnittlich bemühte Jobcenter-Mitarbeiterin zu mir.
Ich freue mich über die Gelegenheit, frage mich aber, ob es wirklich in ganz Köln kein ähnliches Kursangebot gibt, und so fahre ich - bezahlt vom Jobcenter - 40 km pro Strecke Zug.
Die Erwartungen wurden klar an mich kommuniziert: sechs Wochen, acht Stunden am Tag, maximal ein Fehltag, am Ende gibt es eine Prüfung. Bei Bestehen gibt es ein Zertifikat. Dieses, so meine Bearbeiterin, könne mir helfen, eine Berufsausbildung zu finden. Spoiler: konnte es nicht.
So sitze ich frohen Mutes im Zug, trotz der infernalischen Hitze und studiere den Stundenplan: Die erste Woche befasst sich mit Word. Okay. Woche zwei betrifft Excel. Das könnte interessant werden. Dritte Woche: Computer. Okay, was auch immer das heißt. Und so weiter.
Vor der Bildungseinrichtung, die an einer vielbefahrenen Kreuzung in Bahnhofsnähe liegt, pellt sich ein Ungetüm aus Fleisch aus einem winzigen Peugeot 106. Der Mann, zwei Meter groß und mindestens zweihundert Kilo, müht sich keuchend aus seinem Auto und ist Sekunden später von dicken Zuckerwattewolken aus seinem Vaporizer umgeben. Ich nicke ihm zu, während ich an ihm vorbei die Schule betrete. Der Klassenraum ist auf einem kleinen Lageplan, den mir das Jobcenter mitgegeben hat, eingezeichnet.
Ich setze mich in die zweite Reihe, da sitze ich am liebsten. Der Fleischkoloss von vor der Tür kommt in die Klasse und setzt sich direkt vor mich. Sein Maurerausschnitt ist so lang wie mein Unterarm und sein Gestank unerträglich.
Der Dozent kommt rein, stellt sich vor, wir starten eine Vorstellungsrunde. Ich lerne, dass der Zuckerwattewolkenmann Ronny heißt und den Kurs zum dritten Mal besucht. Er hat sechs Kinder und beim den ersten Versuch war eines krank, beim zweiten hat er die Prüfung nicht geschafft. Der Rest der Klasse ist wie ich: orientierungslose Mittzwanziger am Rande der Gesellschaft, die wider jeder Vernunft etwas Hoffnung in der Maßnahme sehen.
Der Dozent macht uns Mut, sagt er habe den Kurs selbst mal absolviert, also wisse man ja nie. Dass er einen BA in Wirtschaftsinformatik hat und den Kurs mitgestaltet hat, verschweigt er erstmal.
Wir versuchen, auf den uralten ThinkPads dem Unterricht zu folgen, aber die Bildschirme sind nicht hell genug und es ist schwierig, irgendwas zu erkennen. Dennoch kennen wir nach einer Woche so etwa die Basics von Word.
Die nächste Woche, der Dozent ist krank. Spontan ziehen wir das Modul “Computer” vor. Der Vertretungslehrer muss seine Aufmerksamkeit zwischen drei Klassen aufteilen, kommt rein, gibt uns den Stundenplan für die Woche. Dieser bringt mich noch heute zum Lachen:
- Montag - Betriebssysteme
- Dienstag - Computerhardware und Elektrotechnik
- Mittwoch - vernetzte IT-Systeme (LAN, WLAN)
- Donnerstag - Programmierung in Java
- Freitag - Wiederholung und Modulprüfung
Na gut, das wird ja eine interessante Woche. “Die Laptops braucht ihr diese Woche nicht”, sagt er. Wir bekommen einen kurzen Text zu Betriebssystemen. In zwei Absätzen wird erklärt, was Windows und was OSX ist. Ronny dreht sich um und erklärt uns, dass wir den zweiten Absatz ignorieren können, denn in der Prüfung kommt nur Windows dran.
Recht hat er, in der Prüfung wird es nur eine Frage zu Betriebssystemen geben: “Welches ist ein Betriebssystem? Windows, Word, HTML, oder WLAN?”
Die restlichen Tage gehen wir mit ähnlicher Tiefe an. Kurze Texte, die mit maximal zwei Fragen in der “Modulprüfung” abgefragt werden. Fast acht Stunden Langeweile am Tag, der Dozent weit und breit nicht zu sehen. Die anderen Teilnehmer sind klüger als ich, tragen sich morgens in die Liste ein und hauen nach Ausgabe der Texte ab. Ronny und ich sind bemüht und bleiben. Ich komme mir wie ein Vollidiot vor.
Freitags kommt die Prüfung (90 Minuten für 10 Multiple Choice Fragen). Ohne Aufsicht. Kurz vor Feierabend, der Lehrer kommt kurz rein, teilt uns das Ergebnis mit. Alle haben bestanden, niemand freut sich.
Die Lernmittel sind unter aller Sau. Es gibt nur 40 Laptops für 3x20 Schüler, weil man eben mit hoher Abwesenheit rechnet. Hilft aber in der erste Woche nicht, wenn die Anwesenheit noch gut ist. Die Unterrichtsräume sind eine reine Zumutung, viel zu eng besetzt, nie im Leben konform mit Brandschutz. Unser Klassenraum ist direkt neben der einzigen Toilette, und so dürfen wir, 2-3 mal täglich, Ronny zuhören, der laut stöhnend schmerzhafte Arschentbindungen durchleben muss.
Die nächste Woche. Excel. Oder Powerpoint, keine Ahnung mehr. Nur noch zwei Drittel der Klasse sind erschienen, ich freue mich, denn so ist die Luft nicht mehr ganz so stickig und nicht mehr ganz so voll mit Scheißepartikeln, Deo und Zigarettengestank. Der Dozent der ersten Woche ist wieder da, aber auch er muss seine Zeit zwischen drei Gruppen aufteilen. Wenigstens gehen die Office-Kurse etwas in die Tiefe, und wenigstens haben wir für diese Laptops. Yay.
Ronny hat sich mittlerweile den Spitznamen “der Professor” verdient. Der Einäugige unter den Blinden. Während der Rest mit Summenformeln überfordert ist, unterhält er sich mit dem Dozenten über Pivot Tabellen und VBA. Wenn wir dumme Fragen stellen, erklärt er uns das Zeug geduldig. Mir wird klar, dass ich ihn den Kerl zu sehr verurteile und ich überlege, wie mein Leben wohl aussähe, wenn ich mich auch um sechs Kinder kümmern müsste.
Nach sechs Wochen gibt es eine Abschlussprüfung. Etwas Office, ein paar Fragen zu Mäusen und Tastaturen und 1:1 dieselben Fragen aus der “Computer”-Woche. Die Auswertung dauert etwa eine Woche, dann bekommen wir das Zertifikat.
Zum letzten Mal sitze ich im Zug nach Hause und reflektiere. Wieder sechs Wochen verschwendet, denke ich mir. Kein echter Erfahrungsgewinn, den Steuerzahler wieder um hunderte Euros beraubt, und auch das Zertifikat, das mir “Fortgeschrittene Kenntnisse in IT, Programmierung und MS Office” bescheinigt, wird bei Bewerbungen so nutzlos sein, wie ich mich fühle.
Du hast das missverstanden, dem Jobcenter geht es hier nicht darum, Dir einen Arbeitsplatz oder Qualifikationen zu verschaffen sondern, die Arbeitsplätze des Dienstleisters im strukturschwachen Umland zu erhalten. HTH
Teilst du dir diesen Account mit jemandem und HTH ist dein Kürzel oder für was steht das?
“Hope this helps” glaube ich. HTH
TIL THX
Und zum Schönen der Statistik. Während der Maßnahme gilt man als Teilnehmender offiziell nicht als arbeitslos. Yay, wieder die Arbeitslosigkeit gesenkt. Hip hip!
Arbeitslos ist ja auch ser falsche Begriff. Man ist höchstens arbeitssuchend. Deswegen ist man mit einer Krankschreibung auch raus aus der Statistik. Dann sucht man ja gerade nicht nach Arbeit.
Ich denke ser logische nächste Schritt ist es, in der Zeit von 22:00-06:00 die Zahl auf 0 zu setzen.