Sie werden beleidigt, bespuckt und angegriffen: Für Menschen mit Migrationsgeschichte ist das in vielen Regionen Thüringens nahezu Alltag. Erst vor wenigen Tagen warnte die Opferberatung Ezra vor einer Eskalation rassistischer Gewalt im Freistaat. In Schmölln haben Ehrenamtliche nun eine App eingerichtet, mit der Menschen bei Neonazi-Angriffen Notrufe absetzen können.

Eine Kletterhalle in Schmölln. Der hohe Industriebau mit den bunten Bouldergriffen an den Wänden erinnert ein bisschen an eine Mischung aus Sporthalle und Jugendzentrum. Im vorderen Bereich gibt es eine Bar, alte Sofas und ein kleiner Bauwagen stehen herum.

Flo, der seinen ganzen Namen nicht nennen will, nimmt auf einer Couch Platz, um die neue Notruf-App des Schmöllner Helferkreises zu demonstrieren. “Helferkreis”, so könne man ihn und seine Mitstreiter nennen, sagt Flo. Kein Verein, keine Initiative, einfach ein paar Menschen, die Geflüchtete in der Stadt unterstützen.

Flo zieht sein Handy aus der Tasche, tippt ein paarmal darauf herum, dann schrillt der Alarm los. “Kannst du mal in die Gruppe schreiben, dass es ein Test ist?”, fragt Flo eine der beiden jungen Frauen, die ebenfalls zum Helferkreis gehören und nicht erkannt werden wollen. Er zeigt auf das Display, auf dem ein roter Kreis pulsiert.

“Dann kann eine Person sagen, ich bin unterwegs - dann würde der Name hier erscheinen. Und dann kann man sich auf anderen Kanälen verabreden. Wer ruft die Polizei, wer fährt hin, wer bringt eine Decke mit, was zu trinken.” Flo schaltet den Alarm ab.

Eine Parallelstruktur zur Polizei wollen sie hier nicht schaffen - im Gegenteil. Die Alarmierung der Polizei durch deutschsprachige Helfer ist Teil des Systems.

“Wir haben das aus den Reihen der Geflüchteten, die wir kennen, in den vergangenen Jahren häufiger gehört, dass sie mit der Polizei keinen sehr zuverlässigen Ansprechpartner haben und die recht hilflos auf uns zugekommen sind und gefragt haben, was könnten wir machen, wenn Übergriffe passierten?”, berichtet der junge Mann.

Geflüchtete hätten unter anderem berichtet, dass Beamte sehr spät gekommen seien, zuerst die Personalien der Betroffenen aufgenommen und nicht nach den mutmaßlichen Tätern gesucht hätten. Das Misstrauen sei groß.

Aber warum sollten sie dann einer App, die rassistische Vorfälle an die Polizei meldet, nutzen? Das mit dem Kontakt zu Helfern find ich aber erst mal ganz cool.

Der letzte Angriff vor zwei Monaten sei der Auslöser gewesen, die Notruf-App für Geflüchtete in Schmölln zu initiieren. Die App selber gab es schon auf dem Markt, Flo und seine Freunde haben eine Gruppe für die Geflüchteten, die sie kennen und betreuen, darin eingerichtet.

Die Landespolizeiinspektion Gera antwortet auf MDR Investigativ-Anfrage, Notrufe würden stets ernst genommen.

Natürlich. Es gab noch nie Probleme.

Der Polizei sei aber sehr daran gelegen, den Berichten nachzugehen. Die Anzahl politisch rechts motivierter Straftaten bewege sich in Schmölln im niedrigen zweistelligen Bereich.

Die Anzahl der gemeldeten rechts motivierten Straftaten

Anlaufstellen für Betroffene rechtsextremer und rassistischer Gewalt gehen seit Jahren von hohen Dunkelziffern aus. Unter anderem Angst, Misstrauen, negative Erfahrungen mit der Polizei, mangelnde Hilfsstrukturen und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden führten dazu, dass Straftaten nicht erfasst oder erst gar nicht angezeigt würden.

Den Geflüchteten schlage viel Ablehnung und Hass entgegen, erzählt Flos Mitstreiterin Anna, die eigentlich anders heißt. “Die werden angespuckt im Laden. Beleidigt sowieso.”

Bedrohungen seien an der Tagesordnung, immer wieder komme es aber auch zu körperlichen Attacken. “Gerade die jungen Männer werden immer enthemmter”, berichtet Anna. Sie habe Angst, dass die Gewalt nach den Landtagswahlen weiter eskaliere, wenn die Rechtsextremen auch noch politisch Rückenwind erfahren würden.

Schmölln hat laut Szenekennern eine gut organisierte und gewaltbereite Neonazi-Szene. Der europaweit bekannte Neonazi-Kampfsportclub “Barbaria Schmölln” hat hier eine große Immobilie.

Vor zwei Jahren war die Trainingsstätte des Clubs abgebrannt

Schade

, mittlerweile hat die Szene eine neue, größere Halle. Der Club und der Chef, ein bekannter Neonazi-Kampfsportler, seien in der Stadt verankert, berichten Szenekenner.

Familien schickten ihre Kinder zum Training zu den Rechtsextremen. Ein Problembewusstsein dafür, wie militant die Strukturen rund um den Kampfsportclub seien, gebe es bei vielen kaum.

Sorgen bereitet den Schmöllner Flüchtlingshelfern auch ein neues Selbstbewusstsein der Szene. Die Rechtsextremen träten in der Stadt immer offensiver auf, berichtet Flo. “Der letzte Angriff, das waren Kids. 12-, 13-, 14-jährige Kids, die schon Bock auf Krawall haben und die sich selber ganz selbstverständlich als rechts bezeichnen. Und rechtsradikal.”

Die Bedrohungen und Übergriffe würden zunehmen, sagt Flo, der in der Region groß geworden ist. Das hänge auch mit dem politischen Klima zusammen. In seiner Jugend habe “Ausländer raus” als problematische Phrase gegolten. Heute bekämen die Rechtsextremen dafür viel Zustimmung aus der Bevölkerung. “Und das spüren wir. Das spüren auch die Geflüchteten, die hier leben.”