Nachdem es letzte Woche etwas eher humorvolles gab, gibt es heute einen Science-Fiction-Versuch (ich nenn’s mal Versuch, weil mir Humor besser liegt).

Die Geschichte wurde auch vertont, für die, die lieber hören statt lesen.

Und über Verbesserungsvorschläge freue ich mich natürlich!

Memories of Earth

Die endlose Weite des Ozeans lag ausgebreitet vor Aaliyah. Was wohl hinter der großen Wassermasse lag? Sie grub ihre Zehen tiefer in den nassen Sand. Eine Welle umspülte ihre Beine und trug den Sand wieder zurück ins Wasser. Die Hand vor ihren Augen konnte nicht viel gegen die Sonne ausrichten. Sie legte sich zurück, kleine heiße Sandkörnchen im Rücken, ein kurzer heißer Schmerz, der so schnell verging, wie er gekommen war. Geschlossene Augen halfen besser als Hände. Die Sonne strahlte rot durch ihre Lider. Ganz sicher würde sie später wieder einen Sonnenbrand auf der Nase haben. Aber für einen Tag am Meer nahm sie jeden Sonnenbrand in Kauf. Wie wundervoll das war, das Meer und sein Gesang: das Flüstern der Wellen, das Schreien der Möwen, das Lachen der Kinder. Aus der Ferne stimmte ein Nebelhorn in ihren Gesang ein. Das Meer und Aaliyah. Aaliyah und das Meer. Wie lange war sie jetzt schon hier? Das Nebelhorn wurde lauter.

Aaliyah seufzte. Es ertönte immer wieder. Lauter. Schneller.

»Jaja«, sagte Aaliyah genervt, »Memory beenden.« Das grelle Leuchten der Neonröhren war grauenvoll und dieser harte Sessel hatte auch sehr wenig mit weichem Sand gemein. Ihre Zehen fanden kaum Platz in den unbequemen Arbeitsschuhen.

Das Nebelhorn klagte noch immer.

Aaliyah seufzte erneut, öffnete die Augen, drückte den Wecker ihres Telespektors.

Das Nebelhorn stoppte.

Auch Memorys Summen verstummte. Aaliyah zog ihre Zugangskarte aus dem Schlitz und legte die Stirnkapsel zurück ins Ladegerät. Stand der Sessel auch genau so, bevor sie ins Zimmer kam? Wahrscheinlich würde das niemandem auffallen, wenn es nicht so wär. Sie ging zur Eingangstüre des Apartments und öffnete sie vorsichtig. Niemand da. Schnell schlüpfte sie hinaus in den Gang und schloss die Türe hinter sich. Bunte Buchstaben auf der Türe leuchteten ihr ein Wort entgegen: Pilgrim. Die Türschilder auf der Kivotos-4 waren eine der wenigen Möglichkeiten, sich hier zu individualisieren. Aaliyah schlich den Gang entlang, zurück zur Krankenstation der Kivotos-4. Es musste nicht jeder wissen, wo sie sich herumtrieb. Außerdem hatte sie vom unnatürlichen Hall der Schritte auf dem metallischen Boden schon immer eine Gänsehaut bekommen.

Nicht alle hatten ein Problem mit lautem Gehen. So wie die alte Dame, die ihr auf dem Gang entgegenkam. Aaliyah war sofort klar, wer das war. Nur eine lief so laut. Hundertfünfundzwanzig Jahre und noch immer so fit, dachte sich Aaliyah. Die alte Dame lächelte, als sie Aaliyah sah.

»Ich hab dich schon vermisst, Schätzchen«, sagte sie, »wo warst du denn?«

»Mittagspause«, antwortete Aaliyah, »geht’s Ihnen denn besser?«

»Ach, in meinem Alter ist immer irgendwas«, sagte ihre Patientin, »manchmal wär ich gern wieder so jung und fit wie du.«

Sie hatte ja keine Ahnung wie das war, dachte sich Aaliyah, wenn man sein ganzes Leben hier verbringen musste.

»Ich muss jetzt zurück zur Arbeit«, sagte Aaliyah leise. Die alte Dame zog weiter, zog lauten Schrittes weiter, klonk klonk klonk, und öffnete die Apartmenttüre mit den bunten Lettern. Das Klicken des Türschlosses hallte an Aaliyah vorbei. Die großen Fenster der Kivotos-4 wirkten neben Aaliyah groß und mächtig. Warum musste sie jetzt schon wieder zur Arbeit. Und dann auch noch dieses Wort: Mittagspause. So etwas gab es hier überhaupt nicht. Hier war es immer Nacht, jeden Tag dunkler, jeden Tag weiter weg von der Sonne. Als sie klein war, da konnte man am Horizont noch mit bloßem Auge die Erde erkennen, inzwischen hatte sich die Kivotos-4 aber zu weit von ihr entfernt.

Die Kivotos-4 war eine von acht Raumstationen, oder auch Archen, wie sie von manchen liebevoll genannt wurden, die zwanzigtausend Menschen durch das Weltall trug. Acht Stationen in acht unterschiedliche Richtungen und niemand wusste genau, ob sie jemals auf einem neuen Planeten ankommen würden. Das ursprüngliche Kivotos-Programm sollte achtundvierzig dieser Archen auf den Weg schicken, um eine neue Erde für die Menschen zu finden. Die simultanen Ausbrüche des Tongavo-Vulkans und des Cerro Quacho beendeten die wissenschaftlichen Forschungen. Der vulkanische Winter sorgte für ein rasches Abkühlen der Erdtemperatur und letztendlich für ein Ende des menschlichen Lebens auf dem Planeten. Von knapp neun Milliarden Menschen lebten jetzt noch einhundertsechzigtausend. Schwebten durchs All in acht Kivotos-Raumstationen. Schwebten ohne Ziel.

Es fehlte Aaliyah hier trotzdem an nichts. Zumindest hatte sie das gedacht, bis sie entdeckte, wie man auf Memory anderer Menschen zugreifen konnte. Memory war der äußerst unkreativ gewählte Name für eine Maschine, in der man Erinnerungen speichern konnte. Erinnerungen, die der Besitzer mithilfe von Memory wieder und wieder erleben konnte. Leben konnte.

Memory war kein einfaches Gerät wie ein Fernseher. Memory vermittelte alle Gefühle und Gerüche und Geräusche, die Teil der Erinnerung waren. Aaliyahs Arbeit in der Klinik ermöglichte es ihr, die notwendigen Zugriffsdaten der gewünschten Memory-Besitzer zu kopieren und so darauf zuzugreifen. So konnte sie spüren, was nur wenige Menschen auf der Kivotos-4 jemals gespürt hatten. Was niemand in ihrem Alter jemals gespürt hatte und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch niemals jemand in ihrer und mindestens der nächsten Generation: ein Leben außerhalb einer Raumstation. Ein Leben auf der Erde, dem Ort, von dem alle ihre Vorfahren abstammten. Der Ort, an dem die Menschen entstanden und der für sie immer ein Geheimnis bleiben würde.

Ihre Urheimat.

Frau Pilgrims Strandurlaub in Spanien gehörte zu ihren liebsten Memory-Erfahrungen.

Aaliyah konnte die schlechte Laune ihrer Kollegin schon spüren, bevor sie durch die automatisch-öffnenden Türen der Klinik bog.

»Du bist zehn Minuten zu spät«, entgegnete diese, »ich will auch mal in meine Pause.« Sie stand auf und drückte Aaliyah ein Klemmbrett in die Hand. Aaliyah setzte sich hinter die Anmeldung und legte das Klemmbrett auf den Tisch. Ein Klemmbrett. Waren Klemmbretter wirklich so vollkommen, dass sie in der digitalen Welt nie weiterentwickelt wurden? Aaliyahs Kollegin wandte sich im Gehen noch einmal zu ihr: »Und Frau Petersson will einen Termin. Mal wieder.«

Etwas besseres hätte Aaliyah nicht passieren können. Frau Petersson gehörte zu den Menschen, die ständig dachten, sie wären krank und daher Dauerpatienten in der Klinik waren. Aus diesem Grund kannte sich Aaliyah in Frau Peterssons Erinnerungen schon sehr gut aus und jetzt hatte sie die Gelegenheit, den Urlaub in Italien fortzuführen.

»Frau Petersson«, rief Aaliyah zur Frau, die gegenüber der Anmeldung platzgenommen hatte und so wie es aussah, eingeschlafen war. Aaliyah stand auf, ging zum Platz, auf dem Frau Petersson saß und kniete sich vor sie. Ganz klar eingeschlafen. Sie schnarchte leise. Und sie hatte erstaunlich wenig Falten für jemanden, der die Einhundertsechzig schon überschritten hatte. Zwanzig Jahre könnte sie locker noch machen, dachte sich Aaliyah.

»Frau Petersson«, sagte sie leise und nahm die Hände der alten Dame in ihre. Im Gegensatz zum Gesicht passten ihre Hände besser zu einer Frau in ihrem Alter. Hart und ledrig und mit vielen tiefen Gräben. Nicht mehr die Hände, mit denen sie damals in Italien durch Ricardos Haar gefahren ist, dachte sich Aaliyah. Sie rüttelte Frau Petersson vorsichtig wach.

»Was?«, entgegnete diese schläfrig.

»Frau Petersson, ich bin’s, Aaliyah. Sie wollten einen Termin machen.« Nach kurzer Orientierungslosigkeit wusste sie wieder, wo sie war und warum sie dort war. Aaliyah half ihr vorsichtig auf und begleitete sie zur Anmeldung.

»Wann passt es ihnen denn?«, fragte Aaliyah.

»Oh, mir tut schon wieder alles weh«, sagte Frau Petersson, »am besten so schnell wie möglich.« So schnell wie möglich wieder in Frau Peterssons Memory, das war perfekt.

»Wie wär es denn morgen um 4 s.t.?«, fragte Aaliyah. Frau Petersson dachte nach. Sie rechnete. Viele der Menschen, die auf der Erde aufgewachsen waren, hatten sich noch nicht an das neue Zeitsystem gewöhnt.

»13 Uhr«, half ihr Aaliyah.

»Ja, 13 Uhr ist gut«, sagte Frau Petersson, »und bitte lassen Sie mich nicht mehr so lange warten wie beim letzten Mal, ich bin nicht mehr die Jüngste.«

»Aber natürlich nicht«, entgegnete Aaliyah. Mit einem Lächeln schaute sie Frau Petersson hinterher, die langsam durch die Türe bog und verschwand.

In der Nacht schlief Aaliyah wenig, träumte jedoch trotzdem viel vom Strand und vom Gesang des Meeres. Aber selbst ihre intensivsten Träume fühlten sich nicht so real an wie die Erinnerungen, die sie in Memory erfuhr.

Wo blieb sie denn nur? Sie hatte es doch sonst immer so eilig. Aaliyah schaute auf die Uhr ihres Telespektors. Kurz vor Mittag. Da war es wieder, dieses Wort ohne Bedeutung. Das künstliche Licht in den Gängen der Raumstation unterschied nicht zwischen Tag und Nacht. Es leuchtete ununterbrochen, unnatürlich, immer und immer weiter. Die meisten jungen Menschen auf Kivotos-4 störte das nicht. Sie waren hier geboren und kannten kein anderes Licht. Für Menschen, die das Licht der Sonne gesehen und erlebt hatten, die gespürt hatten, wie es auf ihrer Nase brannte, für die war es unerträglich.

Ein paar Meter entfernt fiel Frau Peterssons Türe ins Schloss. Das wurde auch langsam Zeit. Aaliyah wartete, bis sie sich von ihr entfernte, bis sie Richtung Klinik klick-klackte und machte sich dann auf dem Weg zum Apartment. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich an der Türe zu schaffen machte. Natürlich kam niemand, sonst hätte sie das gehört. Wenn man sich oft in fremde Apartments einschlich, dann entwickelte man ein Gespür für so etwas. Aber trotzdem: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Warum man denn solche Sprichwörter noch benutzte, fragte sich Aaliyah oft. Die meisten Menschen auf der Kivotos-4 wussten nicht einmal, was Porzellan war. Mit einer Kopie der Zugangskarte des Oberarztes hatte sie Zutritt zu den Zimmern aller Patienten. Das war einfacher als Plastikkarten zwischen Tür und Türrahmen umherzuschieben, einfacher als umprogrammierte Serviceroboter. Die konnten meistens doch nicht dicht halten.

Im Zimmer roch es nach nichts. So wie überall auf der Kivotos-4. Dank der Luftreinigungsanlage konnten sich in der Raumstation weder Viren noch Bakterien vermehren, aber leider verflog so auch jeder Duft der Individualität. Aaliyah überlegte: Frau Petersson würde mindestens eine Stunde in der Klinik sein. Mit Wartezeit vielleicht etwas länger. Und meistens wurden ihre Schmerzen wieder stärker, sobald der Arzt ihr mitteilte, dass sie nichts habe. Also neunzig Minuten. Mindestens. Aaliyah stellte den Wecker ihres Telespektors auf 5:20 s.t. Das war zwar etwas länger als ihre Pause, aber ihr würde schon eine Ausrede einfallen. Lange war ihr sowieso niemand böse.

Aaliyahs Schritte führten sie schon fast automatisch durch Frau Peterssons Eingangsbereich, durch das Wohnzimmer, hinein ins Schlafzimmer, zum Tisch auf dem Memory stand. Hinter dem Tisch, hinter dem Fenster, hinter der weiten Dunkelheit, ganz weit hinten, trieb die menschenleere Erde. Aaliyah schaltete Memory an und steckte die Karte mit Frau Peterssons Daten hinein. Memorys Antwort erschien unmittelbar auf dem Display:

Hallo Doreen. Schön, dass du wieder da bist. Wohin darf ich dich heute bringen?

Wo wollte Aaliyah heute gerne hingehen? Es gab so viele Möglichkeiten. Die meisten Erinnerungen kannte sie schon.

Vielleicht 17. Juni 2069, Berlin? Der Gesang der Großstadt. Menschenmassen, die durcheinander sprachen. Polyphoner Gesang. Das Hupen der Autos, das Brummen der Motoren.

Oder 27. Dezember 2073, Undredal? Das Knirschen der Schritte im Schnee, das Knistern der Äste im Kamin. Die weißen Berge Norwegens, bedeckt mit Schnee, der Aaliyah immer an Sand erinnerte, nur ein bisschen kälter.

Aber Aaliyah hatte sich eigentlich schon am Vortag entschieden, wo sie hin wollte. 12. August 2070, Torri del Benaco. Sie wählte die gewünschte Erinnerung in Memorys Menü aus, klemmte die Stirnkapsel an und schloss die Augen. »Memory Start.«

Die nächtliche Restwärme des heißen Tages legte sich zärtlich auf ihre Arme, ein leichter Wind ließ ihren Rock um die Beine tanzen. Die Gerüche von frisch gebrühtem Espresso und trockenem Rotwein stiegen in ihre Nase und vereinigten sich dort. In der Nähe besang eine Grille die aufkommende Nacht in ihrem abendlichen Lied. Aaliyahs Atem vertrieb Kaffee- und Weingeruch. Ihr Herz sprang, als sie sah, dass er neben ihr saß.

»Alles in Ordnung, Doreen?« Ihre Hände waren so jung, so klein auf seinen.

»Jetzt schon«, antwortete sie und drückte seine Hand ein bisschen fester. Neben ihnen präsentierte der Gardasee seinen schönsten Sternenteppich. Sie waren die letzten im Café. Der Zigarettenrauch des Kellners schwebte an ihrem Tisch vorbei, weiter in Richtung des Sees und verlor sich in einem Mückenschwarm unter einer Laterne.

»Am liebsten würde ich für immer hier mit dir sitzen«, sagte Aaliyah.

»Nichts ist für immer, das weißt du doch«, antwortete er.

»Dieser Moment schon«, sagte Aaliyah und beide verfielen wieder in ihr angenehmes Nebeneinanderschweigen. In der Ferne trieb ein einsames Fischerboot. Ob sie wohl schon etwas gefangen hatten?

»Wollen wir morgen zusammen Fisch essen gehen?«, fragte Aaliyah, »der soll wundervoll sein hier.« Er antwortete nicht.

»Magst du nicht?« Sie drückte seine Hand fester, spürte plötzlich nur noch ihre eigene. War er noch da? Es war, als würde er aufhören zu existieren. In einem Moment saß er neben ihr, im nächsten war er verschwunden. So wie auch die Grillen. Und der Kellner. Es roch nach nichts mehr. Kein Espresso, kein Wein, kein Zigarettenrauch.

»Was passiert hier?«, fragte Aaliyah und stand auf. Der Tisch vor ihr war mittlerweile auch in einem Zwischenzustand aus Existenz und Nicht-Existenz. Der Horizont des Sees wurde heller. Für Sonnenaufgang war es doch noch viel zu früh. Aber es war nicht die Sonne, die über den See stieg. Es war Nichts. Das Nichts verschlang den Nachthimmel und die Sterne, ebenso das Fischerboot und den See, sowie die Straße zwischen dem Café und Aaliyah.

»Memory beenden«, sagte Aaliyah. Nichts passierte. Sie wiederholte den Befehl. Hinter ihr war inzwischen auch das Café verschwunden und die ganze Welt um sie herum wurde langsam in ein tiefes, ruhiges Nichts getaucht. Dann verschwand auch Aaliyah.

Der digitale Nachrichtenanzeiger der Kivotos-4 präsentierte wenige Minuten später folgendes auf den Displays:

Wir trauern um Frau Doreen Petersson. Frau Petersson war mit einhundertsechzig Jahren eine der letzten Pionierinnen der Kivotos-4. Sie verstarb am neunten Tag des siebten Zyklus um 4:39 s.t.

  • Ends@feddit.de
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    1 year ago

    Uuhh, verdammich; was für ein Ende! (Die ganze Geschichte war sehr gut gemacht!)

  • MaggiWuerze@feddit.de
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    1 year ago

    Der Anfang war etwas holprig, dafür war die Geschichte um so besser. Sehr fesselnd geschrieben. Ich hätte das Ende gern noch etwas ausführlicher erlebt, aber dafür ist es nun mal eine Kurzgeschichte :D