Klassenreisen stärken den Teamgeist. Wirklich? Lehrer Ryan Plocher sagt: Sie sind für Eltern zu teuer, für Lehrer zu anstrengend und für viele Kinder schwer auszuhalten.
Klassenreisen stärken den Teamgeist. Wirklich? Lehrer Ryan Plocher sagt: Sie sind für Eltern zu teuer, für Lehrer zu anstrengend und für viele Kinder schwer auszuhalten.
Klassenfahrten nach Frankreich wurden gerade wegen der Aufstände wütender Jugendlicher abgesagt. Andere Klassenreisen mussten abgebrochen werden, weil Schüler und Schülerinnen in Cuxhaven und in Brandenburg angegriffen wurden. Rassismus ist aber nur das extremste Problem der alten Tradition Klassenfahrt. Sie sollte vor allem aus finanziellen, soziokulturellen und pädagogischen Gründen abgeschafft werden. Auch wenn sie vielen unantastbar scheint.
Klassenfahrten sind zu teuer
Als Lehrer an einer Berliner Sekundarschule ist es mir schon öfter passiert, dass ich die Kosten für die Klassenfahrt einzelner Schüler und Schülerinnen vorgestreckt habe. In einem Fall bin ich sogar ganz auf den Kosten sitzen geblieben. Denn viele Eltern trauen sich nicht, schon beim Elternabend anzusprechen, dass es ihnen zu teuer wird – sie schämen sich.
Dabei werden Klassenfahrten immer teurer. Das ist nicht nur eine Folge der Inflation, sondern ein Ergebnis der seit Jahren steigenden Erwartungen ans Reiseunternehmen Schule. Eine Woche im deutschen Wald reicht schon lange nicht mehr aus fürs Teambuilding, die Klasse muss möglichst schon in der Grundschule nach Spanien reisen.
Einige Schulbehörden haben immerhin inzwischen Grenzen gezogen. In Berlin gilt zum Beispiel: Die Fahrt darf in der Grundschule zum Beispiel höchstens 300 Euro kosten, in der Oberstufe dürfen es innerhalb Europas aber bis zu 850 Euro werden. Auch mit diesem Kostenlimit wird es teuer, denn die Klassen gehen häufig auf Fahrt, in Berlin in etwa im Zweijahrestakt. Fahrten für besondere Kurse kommen noch obendrauf – etwa die Spanisch-Sprachreise oder die Skifahrt in der Oberstufe. Wenn Eltern es wagen, mehrere Kinder gleichzeitig in der Schule zu haben, dann ist die Reiserei unbezahlbar. Hilfe vom Amt bekommen nur Familien, die ohnehin Sozialhilfe in verschiedenen Formen erhalten. Wer arbeitet, aber wenig verdient, bleibt mit wenigen Ausnahmen außen vor.
Klassenfahrten erfüllen die Bedürfnisse von manchen Kindern und Eltern nicht
Selbst wenn alle Eltern das Geld für die Reise zusammenkratzen können, wollen nicht alle Kinder mitkommen. In Jugendherbergen ist häufig die Zeit vor der Wende stehen geblieben. Das Essen ist oft weder halal noch vegan. Die strenge Aufteilung nach Mädchen- und Jungszimmern ignoriert die Existenz von geschlechterdiversen Jugendlichen.
Eine große emotionale Herausforderung
Außerdem melden immer mehr Eltern ihre Kinder aus verschiedenen Gründen ab. Ich spreche nicht nur von den konservativ religiösen Eltern, die ihre Töchter nur zu Hause schlafen lassen wollen. Auch Helikoptereltern behalten ihre Kinder mit echten oder imaginierten Krankheiten, Allergien und sonstigen Bedürfnissen lieber zu Hause. Oder sie erwarten von uns Lehrkräften, dass wir Anstandsdame oder Krankenpflegerin spielen sollen – das wollen und können wir aber nicht leisten.
Klassenfahrten überfordern die Lehrkräfte
Auf Klassenfahrten kommt es zudem oft zu Gewalt von Kindern und Jugendlichen, die Konflikte schwer aushalten können. Im Bus oder im gemeinsamen Schlafraum sind die Kinder 24 Stunden beieinander. Das ist für viele eine große Herausforderung, etwa für die vielen Kinder und Jugendlichen mit der Diagnose emotionaler und sozialer Förderbedarf. Seit der Pandemie sind aber auch andere Kinder psychisch stark belastet.
Wenn es zu Gewalt kommt, müssen die Kinder nach Hause geschickt werden. Erlebt habe ich schon: Wir wohnen im Jugendhotel in Wien. Jungs aus meiner Klasse prügeln sich nachts wegen irgendeiner Nichtigkeit mit den Jungs einer Klasse aus Frankfurt. Ich muss dann hoffen, von den betroffenen Eltern mitten in der Nacht die Zusage zu erhalten, dass sie für die Rückfahrt zahlen oder den Sohn selbst abholen. Währenddessen bin ich schlafloser Wächter und Streitschlichter und meine Kollegin muss die restlichen 28 Schüler und Schülerinnen beaufsichtigen. Wenn die Eltern sich weigern, fällt der Ausflug am nächsten Tag aus. Alle bleiben im Hotel eingesperrt, was noch mehr Stress verursacht.
Ältere Lehrerinnen erzählen stolz wie Kriegsveteraninnen, wie sie eine Woche ohne Schlaf ausgekommen sind, weil sie jede Nacht im Flur saßen und allerlei Ausflüge verhindert haben. Auch einige Leser und Leserinnen werden gerade ihre eigenen Besäufnisse auf Klassenfahrten romantisieren. Der 24-Stunden-Einsatz der Lehrkräfte ohne jegliche Entlastung ist aber weder witzig noch konform mit dem Arbeitsrecht, das war auch in den Achtzigerjahren schon so.
Es gibt pädagogisch wertvolle Alternativen
Sind Verarmung, Schlaflosigkeit und Gewaltexzesse wenigstens pädagogisch zu rechtfertigen? Zwei Argumente werden ins Feld geführt: 1. Die Klassenfahrt schweißt die Klasse als Gemeinschaft zusammen (Teambuilding nennt man das jetzt). 2. Die Klassenfahrt gibt benachteiligten Schülerinnen die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, die sie sonst nicht machen würden, sei es beim Camping oder auf dem Eiffelturm. Das erste Argument ist ein Zirkelschluss: Um eine Klassenfahrt gut als Gruppe zu überstehen, muss man bereits als Gruppe funktionieren. Die Zwangsgemeinschaft Klassenfahrt war für Außenseiter schon immer eine besondere Hölle. “Ich will nicht ins Zimmer mit X” ist für X kein Lernmoment, sondern eine Qual. Über das zweite Argument lässt sich lange streiten. Ich frage mich aber, ob die Schule wirklich in der Lage ist, alle Ungerechtigkeiten zu kompensieren. Sollte der Fokus nicht darauf liegen, Benachteiligungen im Lesen-, Rechnen- und Schreiben-Lernen zu verkleinern?
Es gibt Alternativen, die die pädagogischen Ziele einer Klassenreise vielleicht sogar besser erreichen können und gleichzeitig die meisten Probleme der Klassenfahrt umgehen. Zum Beispiel können Schüler und Schülerinnen während einer Projektwoche innerhalb oder außerhalb der Schule sehr viel erleben, lernen und besichtigen – auch ohne Übernachtung. Im Kletterwald oder beim selbst regulierten Fußballspiel ohne Schiedsrichter (“Fairplay Soccer”) übt man den sozialen Zusammenhalt. Mit einer S-Bahn-Fahrt erreicht man auch aus Berlin-Neukölln den Wald, um dort zu lernen, wie man ein Feuer macht oder eine Hütte aus Laub baut. Gemeinsam zu Abend essen und eine Gedenkstätte besuchen kann man genauso gut in Dortmund wie in Prag. Bei einer Projektwoche steht ein Lernziel anstatt eines Reiseziels im Mittelpunkt.
Fachgebundene Fahrten könnten weiterhin stattfinden, denn sie laufen in der Regel unproblematischer ab als Klassenfahrten. Eine Kursfahrt ist in der Regel freiwillig und gebunden an ein Fach, zum Beispiel eine Konzertreise mit dem Schulorchester, eine Tournierreise mit der Basketballmannschaft, der Sprachaustausch in Frankreich, ein von der EU finanzierter Schulaustausch mit einer Schule aus einem Nachbarland und so weiter. Für diese Reisen gibt es sogar manchmal Fördergelder, damit die Eltern nicht dafür aufkommen müssen. Dabei muss die Schule allerdings ihre Kursfahrten ausgewogen planen, damit nicht nur bildungsbegeisterte Kinder auf Fahrt gehen: Es sollte also nicht nur das Orchester, sondern auch der Sportkurs und die Koch-AG auf Reisen gehen können.
Am Anfang eines wahrscheinlich jahrzehntelange währenden Lehrkräftemangels muss man darüber nachdenken, welche Belastungen der Lehrkräfte für die Schüler und Schülerinnen wirklich noch lernfördernd sind – und welche Überbleibsel vergangener Jahrhunderte ersetzt gehören. Die Schule als Reisebüro gehört dazu.
Klassenreisen stärken den Teamgeist. Wirklich? Lehrer Ryan Plocher sagt: Sie sind für Eltern zu teuer, für Lehrer zu anstrengend und für viele Kinder schwer auszuhalten.
Klassenfahrten nach Frankreich wurden gerade wegen der Aufstände wütender Jugendlicher abgesagt. Andere Klassenreisen mussten abgebrochen werden, weil Schüler und Schülerinnen in Cuxhaven und in Brandenburg angegriffen wurden. Rassismus ist aber nur das extremste Problem der alten Tradition Klassenfahrt. Sie sollte vor allem aus finanziellen, soziokulturellen und pädagogischen Gründen abgeschafft werden. Auch wenn sie vielen unantastbar scheint.
Klassenfahrten sind zu teuer Als Lehrer an einer Berliner Sekundarschule ist es mir schon öfter passiert, dass ich die Kosten für die Klassenfahrt einzelner Schüler und Schülerinnen vorgestreckt habe. In einem Fall bin ich sogar ganz auf den Kosten sitzen geblieben. Denn viele Eltern trauen sich nicht, schon beim Elternabend anzusprechen, dass es ihnen zu teuer wird – sie schämen sich. Dabei werden Klassenfahrten immer teurer. Das ist nicht nur eine Folge der Inflation, sondern ein Ergebnis der seit Jahren steigenden Erwartungen ans Reiseunternehmen Schule. Eine Woche im deutschen Wald reicht schon lange nicht mehr aus fürs Teambuilding, die Klasse muss möglichst schon in der Grundschule nach Spanien reisen.
Einige Schulbehörden haben immerhin inzwischen Grenzen gezogen. In Berlin gilt zum Beispiel: Die Fahrt darf in der Grundschule zum Beispiel höchstens 300 Euro kosten, in der Oberstufe dürfen es innerhalb Europas aber bis zu 850 Euro werden. Auch mit diesem Kostenlimit wird es teuer, denn die Klassen gehen häufig auf Fahrt, in Berlin in etwa im Zweijahrestakt. Fahrten für besondere Kurse kommen noch obendrauf – etwa die Spanisch-Sprachreise oder die Skifahrt in der Oberstufe. Wenn Eltern es wagen, mehrere Kinder gleichzeitig in der Schule zu haben, dann ist die Reiserei unbezahlbar. Hilfe vom Amt bekommen nur Familien, die ohnehin Sozialhilfe in verschiedenen Formen erhalten. Wer arbeitet, aber wenig verdient, bleibt mit wenigen Ausnahmen außen vor.
Klassenfahrten erfüllen die Bedürfnisse von manchen Kindern und Eltern nicht Selbst wenn alle Eltern das Geld für die Reise zusammenkratzen können, wollen nicht alle Kinder mitkommen. In Jugendherbergen ist häufig die Zeit vor der Wende stehen geblieben. Das Essen ist oft weder halal noch vegan. Die strenge Aufteilung nach Mädchen- und Jungszimmern ignoriert die Existenz von geschlechterdiversen Jugendlichen. Eine große emotionale Herausforderung Außerdem melden immer mehr Eltern ihre Kinder aus verschiedenen Gründen ab. Ich spreche nicht nur von den konservativ religiösen Eltern, die ihre Töchter nur zu Hause schlafen lassen wollen. Auch Helikoptereltern behalten ihre Kinder mit echten oder imaginierten Krankheiten, Allergien und sonstigen Bedürfnissen lieber zu Hause. Oder sie erwarten von uns Lehrkräften, dass wir Anstandsdame oder Krankenpflegerin spielen sollen – das wollen und können wir aber nicht leisten. Klassenfahrten überfordern die Lehrkräfte Auf Klassenfahrten kommt es zudem oft zu Gewalt von Kindern und Jugendlichen, die Konflikte schwer aushalten können. Im Bus oder im gemeinsamen Schlafraum sind die Kinder 24 Stunden beieinander. Das ist für viele eine große Herausforderung, etwa für die vielen Kinder und Jugendlichen mit der Diagnose emotionaler und sozialer Förderbedarf. Seit der Pandemie sind aber auch andere Kinder psychisch stark belastet. Wenn es zu Gewalt kommt, müssen die Kinder nach Hause geschickt werden. Erlebt habe ich schon: Wir wohnen im Jugendhotel in Wien. Jungs aus meiner Klasse prügeln sich nachts wegen irgendeiner Nichtigkeit mit den Jungs einer Klasse aus Frankfurt. Ich muss dann hoffen, von den betroffenen Eltern mitten in der Nacht die Zusage zu erhalten, dass sie für die Rückfahrt zahlen oder den Sohn selbst abholen. Währenddessen bin ich schlafloser Wächter und Streitschlichter und meine Kollegin muss die restlichen 28 Schüler und Schülerinnen beaufsichtigen. Wenn die Eltern sich weigern, fällt der Ausflug am nächsten Tag aus. Alle bleiben im Hotel eingesperrt, was noch mehr Stress verursacht.
Ältere Lehrerinnen erzählen stolz wie Kriegsveteraninnen, wie sie eine Woche ohne Schlaf ausgekommen sind, weil sie jede Nacht im Flur saßen und allerlei Ausflüge verhindert haben. Auch einige Leser und Leserinnen werden gerade ihre eigenen Besäufnisse auf Klassenfahrten romantisieren. Der 24-Stunden-Einsatz der Lehrkräfte ohne jegliche Entlastung ist aber weder witzig noch konform mit dem Arbeitsrecht, das war auch in den Achtzigerjahren schon so.
Es gibt pädagogisch wertvolle Alternativen Sind Verarmung, Schlaflosigkeit und Gewaltexzesse wenigstens pädagogisch zu rechtfertigen? Zwei Argumente werden ins Feld geführt: 1. Die Klassenfahrt schweißt die Klasse als Gemeinschaft zusammen (Teambuilding nennt man das jetzt). 2. Die Klassenfahrt gibt benachteiligten Schülerinnen die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, die sie sonst nicht machen würden, sei es beim Camping oder auf dem Eiffelturm. Das erste Argument ist ein Zirkelschluss: Um eine Klassenfahrt gut als Gruppe zu überstehen, muss man bereits als Gruppe funktionieren. Die Zwangsgemeinschaft Klassenfahrt war für Außenseiter schon immer eine besondere Hölle. “Ich will nicht ins Zimmer mit X” ist für X kein Lernmoment, sondern eine Qual. Über das zweite Argument lässt sich lange streiten. Ich frage mich aber, ob die Schule wirklich in der Lage ist, alle Ungerechtigkeiten zu kompensieren. Sollte der Fokus nicht darauf liegen, Benachteiligungen im Lesen-, Rechnen- und Schreiben-Lernen zu verkleinern?
Es gibt Alternativen, die die pädagogischen Ziele einer Klassenreise vielleicht sogar besser erreichen können und gleichzeitig die meisten Probleme der Klassenfahrt umgehen. Zum Beispiel können Schüler und Schülerinnen während einer Projektwoche innerhalb oder außerhalb der Schule sehr viel erleben, lernen und besichtigen – auch ohne Übernachtung. Im Kletterwald oder beim selbst regulierten Fußballspiel ohne Schiedsrichter (“Fairplay Soccer”) übt man den sozialen Zusammenhalt. Mit einer S-Bahn-Fahrt erreicht man auch aus Berlin-Neukölln den Wald, um dort zu lernen, wie man ein Feuer macht oder eine Hütte aus Laub baut. Gemeinsam zu Abend essen und eine Gedenkstätte besuchen kann man genauso gut in Dortmund wie in Prag. Bei einer Projektwoche steht ein Lernziel anstatt eines Reiseziels im Mittelpunkt.
Fachgebundene Fahrten könnten weiterhin stattfinden, denn sie laufen in der Regel unproblematischer ab als Klassenfahrten. Eine Kursfahrt ist in der Regel freiwillig und gebunden an ein Fach, zum Beispiel eine Konzertreise mit dem Schulorchester, eine Tournierreise mit der Basketballmannschaft, der Sprachaustausch in Frankreich, ein von der EU finanzierter Schulaustausch mit einer Schule aus einem Nachbarland und so weiter. Für diese Reisen gibt es sogar manchmal Fördergelder, damit die Eltern nicht dafür aufkommen müssen. Dabei muss die Schule allerdings ihre Kursfahrten ausgewogen planen, damit nicht nur bildungsbegeisterte Kinder auf Fahrt gehen: Es sollte also nicht nur das Orchester, sondern auch der Sportkurs und die Koch-AG auf Reisen gehen können. Am Anfang eines wahrscheinlich jahrzehntelange währenden Lehrkräftemangels muss man darüber nachdenken, welche Belastungen der Lehrkräfte für die Schüler und Schülerinnen wirklich noch lernfördernd sind – und welche Überbleibsel vergangener Jahrhunderte ersetzt gehören. Die Schule als Reisebüro gehört dazu.