Die gefühlte und die gemessene Wirklichkeit fallen bei uns Menschen oft auseinander. Das gilt auch für die Frage, wie gefährdet wir in Deutschland durch Terrorismus sind. Ein kühler Blick auf die Zahlen kann helfen, kommentiert Rainer Pörtner.
Der Spaziergang mit dem Hund endete tragisch: Anfang September wurde eine Frau in Wales von einer Herde Kühe zu Tode getrampelt. Die Spaziergängerin war auf einem öffentlich zugänglichen Weg beim Dorf Guilsfield unterwegs, als plötzlich vierzig Kühe auf sie losstürmten.
Wie hat Großbritannien auf diesen Angriff der aggressiven Paarhufer reagiert? War das Land in Aufregung? Gab es Sonderermittler der Polizei? Wurden Gesetze verschärft? Nichts von all dem. Der Tod der Spaziergängerin war den Zeitungen nur wenige Zeilen wert. Dabei handelte es sich nicht um einen Einzelfall. In den Jahren 2018 bis 2023 wurden mehr als 30 Menschen im Vereinigten Königreich durch Kühe getötet.
Statistik versus Empfinden
Im gleichen Zeitraum starben in Großbritannien weniger als zehn Menschen bei Terrorangriffen. Jede der terroristischen Attacken löste heftige Reaktionen aus – bei Bürgern, in den Medien, unter Politikern. Sie befeuerten bei vielen die Sorge, selbst Opfer eines extremistischen Gewaltaktes zu werden. Es gab Debatten über extreme Gefährdungslagen und wie man ihnen begegnen soll – obwohl das statistisch errechenbare Risiko, persönlich getroffen zu werden, verschwindend gering war und bleibt.
Der Mensch ist eine Mischung aus Vernunft und Emotion, aus Wissen und Gefühl. Ein Leben in blanker Rationalität wäre unerträglich, ebenso wie ein ausschließlich durch Stimmungen gesteuertes Dasein. Auf die richtige Mischung kommt es an.
Finden wir das passende Mischungsverhältnis, wenn es um unsere Ängste vor Terror, Gewalt und andere lebensbedrohliche Risiken geht? Zweifel sind angebracht.
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Dabei ging die Zahl terroristischer Angriffe in der EU von 205 im Jahr 2017 zurück auf 15 im Jahr 2021. Ein Jahr später waren es 28. Während laut Europol vor sechs Jahren mehr als 1200 Festnahmen erfolgten, waren es im vorigen Jahr nur noch 380. Auch der Eindruck trügt, der Terror wüte insbesondere in den offenen, westlichen Gesellschaften. Mehr als 99 Prozent der Terroropfer lebten außerhalb Europas.
Gefühlte und gemessene Realität sind oft unterschiedlich. Das Dresdner Innenministerium legte im April eine Studie vor, nach der in Sachsen die Wahrnehmung der Bürger über die Kriminalitätsentwicklung stark abweicht von den tatsächlichen Fallzahlen. Während 72,4 Prozent der Befragten von einer steigenden Kriminalität in den Jahren 2017 bis 2021 ausgingen, sank die Zahl der Straftaten tatsächlich in knapp 86 Prozent aller Bereiche. Die Sachsen sind mit dieser Bewusstseinstäuschung nicht allein.
Medien sind ein gigantischer Verstärker von Katastrophenmeldungen
Die größten Gefahren lauern oft nicht im öffentlichen Raum, wie wir denken, sondern in den scheinbar sicheren, eigenen vier Wänden. Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von häuslicher Gewalt, 702 Menschen wurden im vorigen Jahr dabei getötet. Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Ex-Partner eine Frau umzubringen.
Woran liegt es, dass Realität und Wahrnehmung so häufig auseinandergehen? Ein Grund ist sicher, dass in den Medien und speziell in den sozialen Medien sehr selektiv auf Gewaltphänomene reagiert wird. Gleichzeitig sind sie ein gigantischer Verstärker, der den modernen Menschen pausenlos mit Katastrophenmeldungen anschreit.
Umso wichtiger ist es, innezuhalten und sich in Ruhe die Fakten zu vergegenwärtigen – gerade auch, wenn es um Terrorismus geht. Dieses Wissen relativiert nicht die Verabscheuungswürdigkeit extremistischer Taten. Es verkleinert nicht den Schmerz und die Trauer bei den Angehörigen der Opfer. Es mindert auch nicht den Schutzauftrag des Staates für seine Bürger. Aber es kann helfen, eigene Ängste zu verringern und gesellschaftliche Hysterie zu verhindern.
Das vermute ich auch, dass diese kommerzielle Jagd nach den Klicks in den letzten 10-20 Jahren einen nicht unerheblichen Anteil an unseren momentanen Problemen in der Gesellschaft hat.