Sommer 2019. Nach einer turbulenten Trennung und einem viel zu heißen Sommer zwischen Autos und Beton hatte ich genug vom Stadtleben und suchte mir eine günstige Wohnung in einem winzigen Weindorf gute fünfzig Kilometer von der Heimat entfernt.
Die Besichtigung konnte ich mit einer langen Radtour zuerst den Rhein herauf verbinden, bis ich an ein kleines Flüsschen, das im trockenen Juni das Flussbett nicht füllen konnte, ankam. Dieses radelte ich weiter herauf und mit jedem kleinen Dorf wuchs meine Begeisterung. Alles war grün, der Radweg perfekt gepflegt, und das Tal, anfangs weit und offen, wurde stellenweise richtig eng, sodass man zwischen steilen Felswänden durch fährt. Die umliegenden Hügel, voller Weinreben, und weiter oben, Nadel- und Mischwälder.
Dann, das Zieldorf. Der Radweg führt durch einen 235 Meter langen Tunnel unter einem riesigen Felsen und wilde Reben hängen bis kurz über Kopfhöhe über dem Weg. Der Tunnel ist schwach beleuchtet und rechts gehen abgesperrte Schächte tiefer in den Stein. Für einen Moment genieße ich die Kühle, dann verlasse ich den Tunnel und der Anblick nimmt mir die Luft. Ein alter Bahnhof, unten Sandstein und oben Fachwerk, links die Weinberge, rechts das Flüsslein, weiter rechts, mehr Weinberge. Das Dorf macht sofort einen Eindruck von Beständigkeit, davon, dass es über hundert Jahre entstanden ist und sich wohl auch die nächsten hundert Jahre nicht groß verändern wird.
Das Haus liegt in einer engen Kurve in einer Straße die nach dem Rotwein benannt ist, der dort angebaut wird, über einer alten Weinstube, die nicht mehr betrieben, aber weiterhin liebevoll gepflegt wird. Im Fenster hängt noch ein Menü, darunter eine andächtige Nachricht, die sich bei den Gästen bedankt und schweren Herzens die Schließung der Weinstube ankündigt. Man sieht ein altes Klavier, das über Jahrzehnte die Gäste unterhielt, und Sitzmöbel, die gemütlich und urig aussahen.
Tradition in jeder Fuge, und auch hier, Beständigkeit, Ruhe.
Der Vermieter ist direkt sympathisch, spricht zuerst mit dem örtlichen Akzent aber wechselt alsbald zu Hochdeutsch, und gute fünfzehn Minuten vergehen, bevor ich überhaupt die Wohnung sehe. Er erzählt mir stolz die Geschichte des Hauses, das sein Vater im frühen 20. Jahrhundert gebaut hatte, wie der Neubau entstanden ist, wie der Altbau zur Weinstube umgewandelt wurde, die der Vermieter und seine Frau betrieben, und wie er selbst eine Schlosserei im Keller hatte. Aber nun waren auch die Vermieter alt, die Weinstube geschlossen, die Kinder weggezogen, die Schlosserei bloß noch ein Hobby in einer Werkstatt hinterm Haus, wenngleich mit viel Liebe betrieben.
80 Jahre Geschichte, zehntausende Arbeitsstunden, und das Leben dreier Generationen und unzähliger Gäste in einem Haus.
Die Wohnung war okay, ist hier nicht interessant, aber der Ausblick aus dem Fenster war unbeschreiblich. Direkt hinterm Haus, ein Walnussbaum. Uralt, und seine Äste voller fetter Früchte, wuchs er direkt aus dem Fluss, der gerade nur ein Bach war, aber dennoch hörbar vor sich hinplätscherte. Auf der anderen Flussseite, eine Felswand, relativ Steil und doch voll von Wein und mit einem alten Rebenaufzug. Und ganz oben auf dem Hügel, eine kleine Burg.
“Wollense noch ‘ne Nacht drüber schlafen?” fragt mich der Vermieter, aber ich schlage direkt ein.
Vor der Heimreise sitze ich noch ein wenig hinterm Haus am Bach, sauge die Ruhe und Beständigkeit ein wie ein Schwamm. Und während ich dem Plätschern der Ahr zuhöre, denke ich nur:
“Ja, hier will ich bleiben”.
Ein Abend, gute zwei Jahre später. Um acht reißt der Fluss die Fensterscheiben aus dem Erdgeschoss, die Weinstube, das Klavier, zerstört. Gegen neun wird das Dach der Werkstatt weggerissen, kurz darauf gibt auch der alte Walnussbaum nach. Meine Wohnung, im ersten Stock im Neubau, steht knietief unter Wasser. Der Altbau hält sich tapfer, noch so bis Mitternacht, dann stürzt auch er ein. Teile des Neubaus stehen noch bis zum nächsten Tag, sonst könnte ich das hier nicht schreiben.
Heute ist da nur noch ein Schotterparkplatz.
Oh man, das hab ich so nicht erwartet… Gut geschrieben
Ich musste direkt an Mayschoß denken, als du die Anreise beschrieben hast. Tut mir sehr leid - die Flutkatastrophe war unbeschreiblich.
Richtig surreal, hier von Leuten zu lesen, die das Dörfchen kennen.
Ich bin mit der Familie jahrelang immer mal wieder dort gewesen - tagestrips bis zu „richtigen“ Urlauben. War eines unserer liebsten Ziele und ich erinnere mich immer gerne an Winzergenossenschaft und co. Haben ungezählte Stunden auf der Terrasse beim Appel verbracht. Ich bin dann aber vor 9 Jahren weggezogen und war nicht mehr an der Ahr.
Für mich sind die Bilder von „danach“ bis heute vollkommen surreal.
Für mich sind die Bilder von „danach“ bis heute vollkommen surreal.
Super random, aber ich suche seit Ewigkeiten ein “vorher”-Bild von genau der Ecke. Die Nachher-Bilder die ich auch im Blog gepostet habe, bringen irgendwie nicht rüber, wie viel Glück ich hatte. Von den drei Häusern die da standen hat nur ein halbes die Nacht überstanden und zufällig waren wir gerade in der Hälfte, als der Altbau eingestürzt ist.
Wir sind gerade in Urlaub (Rheinhessen diesmal), aber wenn du magst, schick mir mal ne DM mit welcher Ecke genau du meinst. Vier Erwachsene mit vielen Erinnerungen - und drei, die auch bis kurz vor der Flut noch da waren - könnten eventuell noch was im Archiv haben. Irgendwie hab ich vage was im Kopf, aber ich komm nicht ganz drauf.
Cool, ich hab dir mal die genaue Ecke geschickt. Wenn du mal in der Winzergenossenschaft warst, kennst du die Ecke 100%ig.
Erkenntnis des Tages: meine App zeigt mir keine DMs an 😅 hab aber gerade mal auf deinem blog geschaut und die Ecke kommt mir definitiv bekannt vor. Ist das Richtung Sparkasse? Im Zweifelsfall hab ich was in einer Datensicherung, bin aber erst wieder nächstes Wochenende zuhause. Ich frag aber heute mal bei der Familie rum.
Aus der Ferne hatte ich nach der Flut auch das eine oder andere seltsame Erlebnis. Ich bin Redakteurin und aus meiner Ecke sind viele Helfer - unabhängig voneinander - rüber gefahren. ZB Notfallseelsorger der Caritas oder Einzelpersonen, die dann tageweise vom Helferdorf eingeteilt wurden. Wir haben mit denen Geschichten gemacht, wenn sie wieder da waren. Und alle haben Bilder geliefert, natürlich. Und alle Bilder waren aus Dernau.
Ist das Richtung Sparkasse?
Ja genau. In dem Haus rechts von meinem war unten die Sparkasse. Davon erkannte man am nächsten Tag schon nichts mehr. Der Altbau ging bis vorne zur Straße (die halt auch weg ist) und unten war die Weinstube drin.
Der Tunnel vor dem Bahnhof hat mich auch dran denken lassen.
Gut geschrieben, der Ort klingt bis vor der Flut ja wie frisch aus einem Märchen.
Ich hoffe du hast eine neue Heimat gefunden, irgendwo wo es auch schön ist!